28) Von Deisten, Freigeistern und Religionsspöttern.

Über die Art, wie man schwermütige, tolle und rasende Menschen behandeln müsse, sollte billig ein philosophischer Arzt ein eigenes Werk schreiben. Dieser Mann müßte Leute von der Art in und außer den Hospitälern aufsuchen, dieselben genau und in verschiedenen Jahreszeiten und Mondveränderungen beobachten und aus den Resultaten dieser Untersuchungen ein ganzes System ausarbeiten. Mir fehlt es an der Menge von Tatsachen, sowie an medizinischen Kenntnissen dazu, und hier würde eine weitläuftige Abhandlung über diesen Gegenstand auch zu viel Raum wegnehmen, da ich schon so manches Blatt mit Bemerkungen über den Umgang mit nicht eingesperrten Narren anzufüllen habe. Also nur noch wenig Zeilen darüber.

Der wichtigste Punkt scheint bei solchen Kranken anfangs der zu sein, daß man die erste Quelle ihres Übels aufsuche, daß man bewahrheite, ob und wie dieselbe, durch Zerrüttung einzelner körperlicher Werkzeuge oder durch Gemütslagen, heftige Leidenschaften oder Unglücksfälle entstanden sind. Zu diesem Endzwecke muß man acht darauf geben, womit sich ihre Phantasie in den Augenblicken der Raserei oder Verwirrung und außer denselben beschäftigt, worauf ihre Einbildungskraft brütet. Da würde sich's dann zeigen, daß man, um diese Unglücklichen nach und nach zu heilen, mehrenteils nur auf einen einzigen Punkt zu wirken, in ihnen auf vorsichtige Weise nur eine einzige herrschende Grille zu zerstören oder zu modifizieren brauchte. Ferner würde es wichtig sein, darauf achtzugeben, welche Art von Wetterveränderung, Jahreszeit und Mondwandelung Einfluß auf ihre Krankheit hätte, um die glücklichen Augenblicke zur Behandlung zu nützen. Endlich habe ich bemerkt, daß das Einsperren und jede harte Verfahrungsart fast immer das Übel ärger macht. Ich muß bei dieser Gelegenheit mit wahrem, aufrichtigem Lobe der Einrichtung Erwähnung tun, welche im Tollhause in Frankfurt am Main herrscht, und welche ich vielfältig zu beobachten Gelegenheit gefunden habe. Man läßt dort die Wahnsinnigen, wenn es nur irgend ohne Gefahr geschehn kann, wenigstens in den Jahreszeiten, von welchen man weiß, daß alsdann ihre Tollheit weniger heftig ist, unter unmerklicher Beobachtung frei im Hause und Garten herumgehn, und der Zuchtmeister verfährt so sanft und liebreich mit ihnen, daß viele derselben nach einigen Jahren völlig geheilt wieder herauskommen, und eine größere Anzahl wenigstens nur melancholisch bleibt, allerlei Handarbeit zu verrichten imstande ist, indes diese Menschen in manchen andern Hospitälern durch Einsperren und Härte vielleicht im höchsten Grade wütend geworden sein würden.

Man kann aber auch schwache Menschen stufenweise um ihren Verstand bringen, wenn man eine heftige Leidenschaft, von welcher sie regiert werden, sei es Liebe, Hochmut oder Eitelkeit, nährt, reizt und dann wieder kränkt. Zwei solcher elenden Geschöpfe erinnere ich mich gesehn zu haben. Der eine trug ein Hofnarrenkleid an dem Hofe des Fürsten von ***. Er war in der Jugend ein Mensch von feinem Kopfe, guten Anlagen und voll Witz gewesen; noch loderten davon in ruhigen Augenblicken Flammen hervor. Er hatte studieren sollen, aber nichts gelernt, sondern sich einem liederlichen Leben überlassen. Als er darauf in sein Vaterstädtchen zurückkam, behandelte man ihn als einen unwissenden Müßiggänger, und er selbst fühlte, daß er weiter nichts war. Er hatte aber einen ungeheuren Hochmut und war nicht gänzlich arm. Von seiner Familie und den Leuten seines Standes verstoßen, fing er nun an, mit den Hofoffizianten des Fürsten von *** sich herumzutreiben. Seine lustigen Einfälle zogen sogar die Aufmerksamkeit dieses fast sehr muntern Herrn auf ihn. Er wurde bald vertraut mit demselben und mit dem ganzen Hofe, wodurch anfangs seine Eitelkeit gekitzelt wurde; doch endigte sich das natürlicherweise damit, daß man ihn mißbrauchte und als einen privilegierten Spaßmacher betrachtete. Dies war indessen immer noch eine Art von Existenz, die ihm behagte, Solange das Ding in gewissen Schranken blieb und es ihm erlaubt war, auf vertraulichem Fuße mit vornehmen Leuten umzugehn und ihnen zuweilen derbe Wahrheiten zu sagen. Weil diese aber sich nicht umsonst so weit herablassen wollten, auch nicht zu aller Zeit gleich gut aufgelegt waren, seinen Witz, der zuweilen in das Grobe fiel, anzunehmen, so erfuhr er Demütigungen aller Art, bekam zuweilen Schläge und konnte doch nun nicht mehr zurück, indem ihm seine Verwandten und Bekannten in der Stadt mit äußerster Verachtung begegneten und sein kleines Vermögen geschmolzen war - und so sank er denn immer tiefer. Er wurde gänzlich abhängig vom Hofe; der Fürst ließ ihm eine buntscheckige Kleidung machen, und es war kein Küchenjunge im Schlosse, der nicht das Recht zu haben glaubte, einen Spaß von ihm zu begehren oder ihm für einen Schoppen Wein einen Nasenstüber zu geben. Aus Verzweiflung berauschte er sich nun täglich, und war er ja einmal nüchtern, so nagten die Vorstellung seiner fürchterlichen Lage, das Gefühl der unedlen Rolle, welche er spielte, die Anstrengung, neue Späße zu erfinden, um nicht auf immer verstoßen zu werden, und sein aufwachender Hochmut an seiner Seele, indes er seinen Körper durch Ausschweifungen zerrüttete. Er wurde wirklich ein Narr und einmal so rasend, daß man ihn ein halbes Jahr hindurch an der Kette verwahren mußte. Als ich ihn sah, war er ein alter Mann, trieb sich in einem armseligen Zustande umher, wurde als ein verrückter Mensch angesehn, war aber mehr ein Gegenstand des Widerwillens als des Mitleidens, und hatte doch noch helle Augenblicke, in welchen er ungewöhnlichen Scharfsinn, Witz und Genie verriet, auch, wenn er einen halben Gulden erbetteln wollte, auf eine feine Weise zu schmeicheln und mit so schlauer Menschenkenntnis die schwachen Seiten der Leute zu fassen verstand, daß ich nicht wußte, ob ich nicht mehr über die Leute, die ihn so tief hinabgestoßen hatten als über seine Verirrungen seufzen sollte.

Der andre Mensch, von welchem ich reden wollte, war einstens Verwalter auf einem adeligen Gute gewesen, nachher aber in Pension gesetzt worden. Da nun solchergestalt die Herrschaft nichts mit ihm anzufangen wußte, so trieb sie ihren Spaß mit ihm, indem er sehr dumm und zugleich hochmütig und verliebt war. Sie nannten ihn Fürst, gaben ihm einen Orden, ließen erdichtete Briefe von hohen Potentaten an ihn schreiben, in welchem ihm entdeckt wurde, daß er eigentlich aus einem großen Hause abstammte, aber in seiner Jugend entführt worden sei; daß der Großsultan, welcher unrechtmäßigerweise seine Länder besäße, ihm nach dem Leben trachtete; daß eine griechische oder hebräische Prinzessin in ihn verliebt sei, und dergleichen mehr. Es mußten lustige Freunde, als Gesandte verkleidet, in Unterhandlungen mit ihm treten - und kurz, nach wenig Jahren brachte man es dahin, daß der arme Tropf wirklich verrückt wurde und diese Torheiten glaubte.

Ich enthalte mich aller Anmerkungen über diese beiden Geschichten; der Leser wird sie ohne meine Anweisung machen können.

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Über den Umgang mit Menschen


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Erstes Buch
Über den Umgang mit sich selbst
29) Über die Art, wie man Schwermütige, Tolle und Rasende behandeln müsse. Geschichte zweier Wahnsinniger.


1) Über die vier Haupt-Temperamente und deren Mischungen.
2) Über herrschsüchtige Leute.
3) Über Ehrgeizige.
4) Eitle.
5) Hochmutige, im Gegensatze von Stolzen.
6) Über sehr empfindliche Leute.
7) Über den Umgang mit Eigensinnigen.
8) Mit Zanksüchtigen, Widersprechern und solchen, die Paradoxa lieben.
9) Mit Jähzornigen.
10) Mit Rachgierigen.
11) Mit unentschlossenen, faulen und phlegmatischen Leuten.
12) Mit menschenfremden, mißtrauischen, argwöhnischen, mürrischen und verschlossenen Leuten.
13) Mit neidischen, hämischen, verleumderischen, schadenfrohen, mißgünstigen und eifersüchtigen Menschen.
14) Über den Geiz und die Verschwendung.
15) Über das Betragen gegen Undankbare.
16) Gegen ränkevolle Leute und Lügner.
17) Gegen Windbeutel.
18) Gegen Unverschämte, Müßiggänger, Schmarotzer, Schmeichler und zudringliche Leute.
19) Gegen Schurken.
19) Gegen Schurken.
20) Gegen zu bescheidene, zu furchtsame Menschen,
21) Gegen Unvorsichtige und Plauderhafte, Vorwitzige und Neugierige, Zerstreute und Vergessene.
22) Gegen Wunderliche, Sonderlinge und Launenhafte.
23) Über den Umgang mit dummen, schwachen, übertrieben gutherzigen, leichtgläubigen und solchen Menschen, die gewisse Liebhabereien und Steckenpferde haben.
24) Mit munteren und satirischen Leuten.
25) Mit Trunkenbolden, groben Wollüstlingen und andern lasterhaften Leuten.
26) Mit Enthusiasten, Überspannten, Romanhaften, Kraftgenies und exzentrischen Leuten.
27) Etwas von Andächtlern, Heuchlern und abergläubischen Leuten.
28) Von Deisten, Freigeistern und Religionsspöttern.
29) Über die Art, wie man Schwermütige, Tolle und Rasende behandeln müsse. Geschichte zweier Wahnsinniger.

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