21) Gegen Unvorsichtige und Plauderhafte, Vorwitzige und Neugierige, Zerstreute und Vergessene.

Unvorsichtigen und plauderhaften Leuten darf man natürlicherweise keine Geheimnisse anvertraun. Besser wäre es, man hätte überhaupt keine Geheimnisse in der Welt, könnte immer frei und offen handeln, und alles, was im Herzen vorgeht, vor jedermann sehn lassen; besser wäre es, man dächte und redete nichts, als was man laut denken und reden darf; da dies indessen besonders bei Männern, die in öffentlichen Ämtern stehen oder sonst fremde Geheimnisse zu verwahren haben, nicht möglich ist, so muß man freilich vorsichtig in Mitteilung seiner Heimlichkeiten sein.

Man findet Menschen, denen es schlechterdings unmöglich ist, eine Sache zu verschweigen. Man sieht es ihnen an, wenn sie ängstlich umherlaufen, daß sie etwas Neues tragen, und daß sie leiden, bis sie einem andern Plauderer ihre Nachricht heiß mitgeteilt haben. Andern fehlt es zwar nicht an dem guten Willen zu schweigen, wohl aber an der Klugheit, sich nicht durch Winke, Blicke oder auf andre Art zu verraten, oder an der Festigkeit, sich nicht ausfragen zu lassen, oder sie haben eine zu gute Meinung von der Ehrlichkeit und Verschwiegenheit derer, welchen sie sich anvertrauen - gegen alle diese muß man verschlossen sein.

Es kann auch zuweilen nicht schaden, wenn man plauderhafte Leute bei der ersten Gelegenheit, da sie etwas über uns geschwätzt haben, dergestalt in Furcht setzt, daß sie es nicht wagen dürfen, hinter unserm Rücken auch nur einmal unsern Namen zu nennen, es sei im Guten oder Bösen. Die eigentlichen bekannten Zeitungsträger aber, deren es fast in jeder Stadt einige gibt, kann man nützen, wenn man ein Märchen im Publico ausgebreitet wissen will. Nur muß man dann nicht verfehlen, sie um Verheimlichung der Sache zu bitten, sonst halten sie es vielleicht der Mühe nicht wert, dieselbe auszuplaudern.

Vorwitzige und neugierige Menschen kann man nach den Umständen entweder auf ernsthafte oder spaßhafte Manier behandeln. Im erstern Falle muß man, sobald man merkt, daß sie sich im mindesten um unsre Angelegenheiten bekümmern, uns belauschen, behorchen, sich in unsre Geschäfte mischen, unsern Schritten nachspüren oder unsre Pläne und Handlungen ausspähn wollen, sich gegen die mündlich, schriftlich oder tätig so kräftig erklären, sie auf eine solche Weise zurückschicken, daß ihnen die Lust vergeht, auch nur von weitem sich an uns zu wagen. Will man aber seine Lust mit ihnen haben, so kann man ihrer Neugier ohne Unterlaß so viel zu schaffen machen, daß sie über die Kindereien, worauf man ihre Achtsamkeit lenkt, keine Muße behalten, sich um diejenigen Dinge zu bekümmern, woran uns gelegen ist, daß sie dieselben nicht beobachten.

Zerstreute und vergeßliche Leute taugen nicht zu Geschäften, wo es auf Pünktlichkeit ankommt. Jungen Personen kann man diese Fehler zuweilen noch abgewöhnen und es dahin bringen, daß sie ihre Gedanken beieinanderhalten. Manche, die aus zu großer Lebhaftigkeit des Temperaments leicht alles vergessen und nie da zu Hause sind, wo sie sein sollten, kommen von dieser Schwachheit zurück, wenn sie älter, kühler und sittsamer werden. Andre affektieren zerstreut zu sein, weil sie glauben, das sähe vornehm oder gelehrt aus, und über solche Toren soll man nur die Achseln zucken und sich wohl hüten, ihre Distraktionen artig zu finden. Es gilt von ihnen, was ich über sie sage, welche sich körperlich krank stellen, um Interesse zu erwecken. Wessen Gedächtnis aber wirklich schwach und nicht etwa durch Übung nach und nach zu stärken ist, dem rate man, sich alles schriftlich aufzuzeichnen, was er behalten will, und diesen Zettel täglich oder wöchentlich einmal durchzulesen; denn es ist wahrlich nichts verdrießlicher, als wenn uns jemand verspricht, eine Sache zu besorgen, an welcher uns gelegen ist, wir uns auch auf sein Wort verlassen, er aber nachher rein vergißt, wovon die Rede gewesen.

Sehr zerstreuten Leuten muß man es übrigens so hoch nicht anrechnen, wenn sie gegen uns zuweilen in Aufmerksamkeit, Höflichkeit, oder was man sonst im geselligen und freundschaftlichen Umgange fordert, unvorsätzlich fehlen.

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Über den Umgang mit Menschen


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Erstes Buch
Über den Umgang mit sich selbst
21) Gegen Unvorsichtige und Plauderhafte, Vorwitzige und Neugierige, Zerstreute und Vergessene.


1) Über die vier Haupt-Temperamente und deren Mischungen.
2) Über herrschsüchtige Leute.
3) Über Ehrgeizige.
4) Eitle.
5) Hochmutige, im Gegensatze von Stolzen.
6) Über sehr empfindliche Leute.
7) Über den Umgang mit Eigensinnigen.
8) Mit Zanksüchtigen, Widersprechern und solchen, die Paradoxa lieben.
9) Mit Jähzornigen.
10) Mit Rachgierigen.
11) Mit unentschlossenen, faulen und phlegmatischen Leuten.
12) Mit menschenfremden, mißtrauischen, argwöhnischen, mürrischen und verschlossenen Leuten.
13) Mit neidischen, hämischen, verleumderischen, schadenfrohen, mißgünstigen und eifersüchtigen Menschen.
14) Über den Geiz und die Verschwendung.
15) Über das Betragen gegen Undankbare.
16) Gegen ränkevolle Leute und Lügner.
17) Gegen Windbeutel.
18) Gegen Unverschämte, Müßiggänger, Schmarotzer, Schmeichler und zudringliche Leute.
19) Gegen Schurken.
20) Gegen zu bescheidene, zu furchtsame Menschen,
22) Gegen Wunderliche, Sonderlinge und Launenhafte.
23) Über den Umgang mit dummen, schwachen, übertrieben gutherzigen, leichtgläubigen und solchen Menschen, die gewisse Liebhabereien und Steckenpferde haben.
24) Mit munteren und satirischen Leuten.
25) Mit Trunkenbolden, groben Wollüstlingen und andern lasterhaften Leuten.
26) Mit Enthusiasten, Überspannten, Romanhaften, Kraftgenies und exzentrischen Leuten.
27) Etwas von Andächtlern, Heuchlern und abergläubischen Leuten.
28) Von Deisten, Freigeistern und Religionsspöttern.
29) Über die Art, wie man Schwermütige, Tolle und Rasende behandeln müsse. Geschichte zweier Wahnsinniger.
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