27) Etwas von Andächtlern, Heuchlern und abergläubischen Leuten.

Reden wir jetzt ein Wort von Andächtlern, Frömmlern, Heuchlern und abergläubischen Leuten!

Wem es mit seinen Empfindungen für die Religion, mit seiner Wärme für Gottesliebe, Gottesfurcht und Gottesverehrung und mit seiner Anhänglichkeit an die gottesdienstlichen Gebräuche der Kirche, zu welcher er sich in seinem Herzen bekennt, ein aufrichtiger Ernst ist, der hat die gegründetsten Ansprüche auf unsre Achtung. Sollte er auch das Wesen der Religion, mehr als wir für gut halten, in bloßem Gefühle, ohne allen Gebrauch seiner ihm von Gott verliehenen Leiterin, der Vernunft, setzen; sollte auch, unsrer Meinung nach, eine erhitzte Phantasie sich in seine religiösen Empfindungen mischen; sollte er auch zu anhänglich an gewisse Zeremonien, Gebräuche und Systeme sein, so verdient er, wenn er übrigens ein redlicher Mann, ein praktischer Christ ist, Duldung, Schonung und Bruderliebe. Allein um desto verachtungswürdiger ist ein Schuft, ein gleisnerischer Bösewicht, der hinter der Larve der Heiligkeit, Sanftmut und Religiosität den wollüstigen Verführer, den tückischen Verleumder, Aufrührer, Anhetzer, rachgierigen Bösewicht oder den fanatischen Verfolger versteckt. Beide Arten von Leuten sind aber nicht schwer zu unterscheiden. Der fromme Edle ist grade, offen, still und heiter, nicht übertrieben höflich, nicht übertrieben zuvorkommend, noch übertrieben demütig, aber liebevoll, einfach und zutraulich in seinem Betragen. Er ist nachsichtig, milde und duldend, redet auch nicht viel außer mit vertrauten Freunden über religiöse Gegenstände; der Heuchler hingegen pflegt süß, kriechend, schmeichelnd, immer auf seiner Hut, ein Sklave der Großen, ein Anhänger der herrschenden Partei, ein Freund der Glücklichen, nie ein Verteidiger der Verlaßnen zu sein. Er führt Rechtschaffenheit und Religion ohne Unterlaß im Munde, gibt seine reichen Almosen und erfüllt seine christlichen Liebespflichten mit Geräusch und Aufsehn, tobt und schäumt über den Gottlosen und Lasterhaften oder entschuldigt fremde Fehler auf solche Weise, daß sie dadurch tausendfältig vergrößert erscheinen. Hüte Dich, diesem auf irgendeine Weise in die Hände zu fallen! Fliehe ihn! Tritt ihm nicht auf den Fuß! Beleidige ihn nicht, wenn Dir Deine Ruhe lieb ist!

Abergläubische Leute, die an Ammenmärchen, Gespensterhistörchen und dergleichen hängen, sind nicht durch Gründe der Philosophie und durch vernünftige Zweifelserweckung von ihrem Wahne zu befrein, am wenigsten aber durch Deklamationen, Persiflage und Ereiferung. Es ist da kein anders Mittel, als ihnen nicht eher zu widersprechen, bis man zugleich eine einzelne Tatsache strenge und kaltblütig untersuchen, und sie mit eigenen Augen von dem Betruge oder Ungrunde überzeugen kann, obgleich es wahrlich unbillig ist, daß man dem, welcher eine übernatürliche Erscheinung behauptet, den Beweis erläßt, und ihn demjenigen auflegt, der die Rechte der Vernunft verteidigt.

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Über den Umgang mit Menschen


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Erstes Buch
Über den Umgang mit sich selbst
27) Etwas von Andächtlern, Heuchlern und abergläubischen Leuten.


1) Über die vier Haupt-Temperamente und deren Mischungen.
2) Über herrschsüchtige Leute.
3) Über Ehrgeizige.
4) Eitle.
5) Hochmutige, im Gegensatze von Stolzen.
6) Über sehr empfindliche Leute.
7) Über den Umgang mit Eigensinnigen.
8) Mit Zanksüchtigen, Widersprechern und solchen, die Paradoxa lieben.
9) Mit Jähzornigen.
10) Mit Rachgierigen.
11) Mit unentschlossenen, faulen und phlegmatischen Leuten.
12) Mit menschenfremden, mißtrauischen, argwöhnischen, mürrischen und verschlossenen Leuten.
13) Mit neidischen, hämischen, verleumderischen, schadenfrohen, mißgünstigen und eifersüchtigen Menschen.
14) Über den Geiz und die Verschwendung.
15) Über das Betragen gegen Undankbare.
16) Gegen ränkevolle Leute und Lügner.
17) Gegen Windbeutel.
18) Gegen Unverschämte, Müßiggänger, Schmarotzer, Schmeichler und zudringliche Leute.
19) Gegen Schurken.
20) Gegen zu bescheidene, zu furchtsame Menschen,
21) Gegen Unvorsichtige und Plauderhafte, Vorwitzige und Neugierige, Zerstreute und Vergessene.
22) Gegen Wunderliche, Sonderlinge und Launenhafte.
23) Über den Umgang mit dummen, schwachen, übertrieben gutherzigen, leichtgläubigen und solchen Menschen, die gewisse Liebhabereien und Steckenpferde haben.
24) Mit munteren und satirischen Leuten.
25) Mit Trunkenbolden, groben Wollüstlingen und andern lasterhaften Leuten.
26) Mit Enthusiasten, Überspannten, Romanhaften, Kraftgenies und exzentrischen Leuten.
28) Von Deisten, Freigeistern und Religionsspöttern.
29) Über die Art, wie man Schwermütige, Tolle und Rasende behandeln müsse. Geschichte zweier Wahnsinniger.

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