58) Wie man die Menschen beurteilen solle.

Beurteile die Menschen nicht nach dem, was sie reden, sondern nach dem, was sie tun. Aber wähle zu Deinen Beobachtungen solche Augenblicke, in welchen sie von Dir unbemerkt zu sein glauben. Richte Deine Achtsamkeit auf die kleinen Züge, nicht auf die Haupthandlungen, zu denen jeder sich in seinen Staatsrock steckt. Gib acht auf die Laune, die ein gesunder Mann beim Erwachen vom Schlafe, auf die Stimmung, die er hat, wenn er des Morgens, wo Leib und Seele im Nachtkleide erscheinen, aus dem Schlafe geweckt wird, auf das, was er vorzüglich gern ißt und trinkt: ob sehr materielle, einfache oder sehr feine, gewürzte, zusammengesetzte Speisen; auf seinen Gang und Anstand; ob er lieber allein seinen Weg geht oder sich immer an eines andern Arm hängt; ob er in einer graden Linie fortschreiten kann oder seines Nebengängers Weg durchkreuzt, oft an andre stößt und ihnen auf die Füße tritt; ob er durchaus keinen Schritt allein tun, sondern stets Gesellschaft haben, immer sich an andre anschließen, auch um die geringsten Kleinigkeiten erst Rat fragen, sich erkundigen will, wie es sein Nachbar, sein Kollege macht; ob, wenn er etwas fallen läßt, er es sogleich wieder aufnimmt, oder es da liegen läßt, bis er gelegentlich, nach seiner Gemächlichkeit, einmal hinreicht, um es aufzuheben; ob er gern andern in die Rede fällt, niemand zu Worte kommen läßt; ob er gern geheimnisvoll tut, die Leute auf die Seite ruft, um ihnen gemeine Dinge in das Ohr zu sagen; ob er gern in allem entscheidet und so ferner. - Fasse alle diese Wahrnehmungen zusammen, nur sei nicht so unbillig, nach einzelnen solchen Zügen den ganzen Charakter zu richten.

Sei nicht zu parteiisch für Menschen, die Dir freundlicher begegnen als andre.

Baue nicht eher fest auf treue, immer Stich haltende Liebe und Freundschaft, als bis Du erst solche Proben gesehn hast, die Aufopferung kosten. Die mehrsten Menschen, die uns so herzlich ergeben scheinen, treten zurück, sobald es darauf ankommt, ihren Lieblingsneigungen zu unserm Vorteile zu entsagen. Darauf ist also Rücksicht zu nehmen, wenn man wissen will, was ein Mensch uns wert ist. Es ist keine Kunst, alles zu leisten, was man nur wünschen mag, das einzige ausgenommen, was Überwindung kostet.

Hinter die Ohren schreiben >>

Über den Umgang mit Menschen


cover

Erstes Buch
Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen
58) Wie man die Menschen beurteilen solle.


1) Jeder Mensch muß sich in der Welt selbst gelten machen. Anwendung dieses Satzes.
2) Strebe nach Vollkommenheit; aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit!
3) Sei nicht zu sehr ein Sklave der Meinung andrer!
4) Enthülle nicht die Schwächen Deiner Nebenmenschen!
5) Eigne Dir nicht das Verdienst andrer zu!
6) Verbirg Deinen Kummer!
7) Rühme nicht zu laut Dein Glück!
8) Verliere nicht die Zuversicht!
9) Suche Gegenwart des Geistes zu haben!
10) Nimm, so wenig als möglich, von andern Wohltaten an!
11) Halte streng Wort und sei wahrhaft!
12) Sei pünktlich, ordentlich, fleißig!
13) Interessiere Dich für andre, wenn Du willst, daß andre sich für Dich interessieren sollen!
14) Sei nicht zu offen herzig!
15) Alle Menschen wollen amüsiert sein. Über das Spaßmachen.
16) Sage jedem etwas Lehrreiches oder Angenehmes! Über Schmeichelei.
17) Über Spott und Medisance.
18) Über Anekdoten.
19) Trage keine Nachrichten aus einem Hause in das andre!
20) Sei vorsichtig in Tadel und Widerspruch!
21) Rede nicht zu viel und nicht langweilig!
22) Noch von Dingen, die nur Dich interessieren!
23) Über Egoismus.
24) Widersprich Dir nicht im Reden!
25) Wiederhole Dich nicht!
26) Vermeide Zweideutigkeiten;
27) Gemeinsprüche;
28) Unnütze Fragen!
29) Lerne Widerspruch ertragen!
30) Wo man sich zur Freude versammelt, da rede nicht von Geschäften!
31) Über Religionsgespräche.
32) Sei vorsichtig in Gesprächen über andrer Gebrechen!
33) Regeln beim Briefwechsel.
34) Suche niemand lächerlich zu machen!
35) Schrecke, zerre, beunruhige und necke niemand!
36) Bringe bei niemand unangenehme Dinge in Erinnerung!
37) Nimm nicht teil an fremdem Spotte!
38) Über Disputiergeist.
39) Laß jeden seine Handlungen selbst verantworten, wenn Du nicht sein Vormund bist!
40) Betragen, wenn uns Langeweile gemacht wird.
41) Über Verschwiegenheit;
42) Leichtigkeit im Umgange;
43) Wohlredenheit und äußerlicher Anstand;
44) Kleidung.
45) Über kleine gesellschaftliche Unschicklichkeiten.
46) Soll man viel oder wenig in Gesellschaften gehn?
47) Man hüte sich vor zu großen Forderungen!
48) Unterschied im äußern Betragen.
49) Sei, was Du bist, immer und ganz!
50) Gib andern Gelegenheit zu glänzen!
51) Man kann in jeder Gesellschaft etwas lernen.
52) Mit wem soll man umgehn?
53) Über den Umgang in großen Städten, in kleinern, und auf dem Lande.
54) In fremden Gegenden
55) Verflechte niemand in Deine Privat-Zwistigkeiten!
56) Wenn Du etwas in der Welt erlangen willst, so mußt Du darum bitten.
57) Grenzen der Dienstfertigkeit.
59) Vorsichtigkeits-Regeln.
60) Ob diese Regeln für alle Menschen passen?
61) Vor allen Dingen handle immer konsequent!
62) Habe immer ein gutes Gewissen!
63) Inwiefern auch Frauenzimmer von diesen Regeln Gebrauch machen können.

Der Gentleman.
Der Gentleman - ein Ratgeber der Extraklasse
   Besuchen Sie auch Klassiker-der-Weltliteratur.de!