41) Über Verschwiegenheit
Eine der wichtigsten Tugenden im gesellschaftlichen Leben und die wirklich täglich seltener wird, ist die Verschwiegenheit. Man ist heutzutage so äußerst trügerisch in Versprechungen, ja in Beteuerungen und Schwüren, daß man ohne Scheu ein unter dem Siegel des Stillschweigens uns anvertrautes Geheimnis gewissenloserweise ausbreitet. Andre Menschen, die weniger pflichtvergessen, aber höchst leichtsinnig sind, können ihrer Redseligkeit keinen Zaum anlegen. Sie vergessen, daß man sie gebeten hat zu schweigen, und so erzählen sie, aus unverzeihlicher Unvorsichtigkeit, die wichtigsten Geheimnisse ihrer Freunde an öffentlichen Wirtstafeln. Oder, indem sie jeden, der ihnen in dem Drange sich zu entladen in den Wurf kommt, für einen treuen Freund ansehen, vertrauen sie das, was sie doch nicht als ihr Eigentum betrachten sollten, ebenso leichtsinnigen Leuten an, als sie selbst sind. Solche Menschen gehen dann auch nicht weniger unklug mit ihren eigenen Heimlichkeiten, Plänen und Begebenheiten um, zerstören dadurch sehr oft ihre zeitliche Glückseligkeit und vernichten ihre Absichten.
Welchen Nachteil überhaupt solche unvorsichtige Bewahrung fremder und eigener Geheimnisse gewährt, das bedarf wohl keiner weitläufigen Auseinandersetzung. Es gibt aber eine Menge andrer Dinge, die zwar nicht eigentlich Geheimnisse sind, wovon uns aber die Vernunft lehrt, daß es besser sei, sie zu verschweigen, und andre Dinge, deren Ausbreitung wenigstens für niemand lehrreich und unterhaltend sein kann, und wovon es doch möglich wäre, daß ihre Verplauderung irgend jemand nachteilig sein möchte. - Ich empfehle also eine kluge Verschwiegenheit, die jedoch nicht in lächerliche Mysteriösität ausarten muß, als eine sehr wichtige Tugend im Umgange. Übrigens wird man die Bemerkung wahr finden, daß in despotischen Staaten die Menschen im ganzen genommen verschwiegener sind, als wo mehr Freiheit herrscht. Dort machen Furcht und Mißtraun verschlossen und zurückhaltend, hier folgt jeder dem Triebe seines Herzens, sich freimütig mitzuteilen.
Wenn man auch mehreren Leuten zugleich sein Geheimnis anvertrauen muß, so lege man doch jedem unbedingte Verschwiegenheit auf, damit jeder von ihnen glaube, er wisse es allein, müsse allein für die Bewahrung haften.
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