43) Wohlredenheit und äußerlicher Anstand

Ein großes Talent, und das durch Studium und Achtsamkeit erlangt werden kann, ist die Kunst, sich bestimmt, fein, richtig, kernig, nicht weitschweifig auszudrücken, lebhaft im Vortrage zu sein, sich dabei nach den Fähigkeiten der Menschen zu richten, mit denen man redet, sie nicht zu ermüden, gut und launig zu erzählen, nicht über seine eigenen Einfälle zu lachen, nach den Umständen trocken oder lustig, ernsthaft oder komisch seinen Gegenstand darzustellen und mit natürlichen Farben zu malen. Dabei soll man sein Äußeres studieren, sein Gesicht in seiner Gewalt haben, nicht grimassieren, und wenn wir wissen, daß gewisse Mienen, zum Beispiel beim Lachen, unsrer Bildung ein widerwärtiges Ansehn geben, diese zu vermeiden suchen. Der Anstand und die Gebärdensprache sollen edel sein; man soll nicht bei unbedeutenden, affektlosen Unterredungen wie Personen aus der niedrigsten Volksklasse mit Kopf, Armen und andern Gliedern herumfahren und um sich schlagen; man soll den Leuten grade, aber bescheiden und sanft ins Gesicht sehn, sie nicht bei Ärmeln, Knöpfen und dergleichen zupfen oder immer etwas zu spielen zwischen den Fingern haben. Kurz, alles was eine feine Erziehung, was Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf andre verrät, das gehört notwendig dazu, den Umgang angenehm zu machen, und es ist wichtig, sich in solchen Dingen nichts nachzusehn, sondern jede kleine Regel des Anstandes, selbst in dem Zirkel seiner Familie, zu beobachten, um sich das zur andern Natur zu machen, wogegen wir so oft fehlen, und was uns Zwang scheint, wenn wir uns Nachlässigkeiten in der Art zu verzeihn gewöhnt sind. Hierüber in diesen Blättern viel mehr zu sagen, zu lehren: warum man den Leuten nicht in die Rede fallen dürfe; daß wir einen Teller, oder was uns dargereicht wird, auch dann abnehmen müssen, wenn wir nichts davon behalten wollen, damit der andre nicht die Mühe habe, es unsertwegen in der Hand zu tragen; daß man so wenig als möglich in einer Gesellschaft den Leuten den Rücken zukehren, in Titeln und Namen nicht irre werden solle; daß man bei Personen, die das genau nehmen, den Vornehmern immer auf der rechten Seite, oder, wenn drei beisammen sind, in der Mitte gehn lasse; daß man, wenn jemand, dem wir Achtung schuldig sind, vor unserm Hause vorübergeht, wo wir am Fenster stehn und er uns grüßt, man das Fenster auf einen Augenblick öffnen oder wenigstens tun müsse, als wolle man es öffnen; daß eben dies in der Kutsche, beim Vorüberfahren zu beobachten sei; daß man dem, mit welchem man spricht, frei und offen, doch nicht starr und frech in das Gesicht schauen, seine Stimme in seiner Gewalt haben, nicht schreien und doch verständlich reden, in seinem Gange Anstand beobachten, nicht allerorten das große Wort haben solle; daß man, wenn man ein Frauenzimmer führt, um sie nicht zu stoßen, mit ihr gleichen Schritt halten und mit demselben Fuße wie sie antreten, ihr auch zuweilen seine linke Hand reichen müsse, wenn sie an der rechten Seite nicht so bequem gehn würde; daß man auf steilen Treppen im Hinuntersteigen die Frauenzimmer vorausgehn, im Hinaufsteigen aber sie folgen lassen müsse; daß, wenn man uns nicht versteht und man voraussieht, daß eine genauere Erklärung nichts helfen würde oder der Gegenstand von so geringer Wichtigkeit ist, daß er keinen großen Aufwand von Worten verdient, man dann die ganze Sache fallenlassen müsse; daß vornehme Leute, wenn sie nicht über Vorurteile hinaus sind, es übelnehmen, wenn ein Geringerer von sich und ihnen in Gemeinschaft spricht (z. B. »Als wir gestern zusammen spazierengingen.« »Wir haben gewonnen im gestrigen Spiele und unsre Gegner verloren«), sondern, daß sie verlangen, man solle tun, als seien sie allein in der Welt des Nennens wert: »Ihro Exzellenz, Ihro Gnaden haben gewonnen« (höchstens möchte man hinzusetzen: »mit mir«); daß man bei Tische den abgeleckten Löffel, womit man gegessen, nicht wieder vor sich hinlegen solle, wie so viele tun; daß es anständig sei, wenn man jemand im Vorbeigehn grüßen will, den Hut auf der Seite abzuziehn, wo der Fremde nicht geht, damit man ihn nicht damit berühre und sein Gesicht nicht vor ihm verberge; daß man, wenn man jemand etwas darreicht, es, insofern dies zu ändern steht, nicht mit der bloßen Hand hingeben müsse; daß es sich nicht schicke, in Gesellschaften in das Ohr zu flüstern, bei Tafel krumm zu sitzen, unanständige Gebärden zu machen, noch zu leiden, daß ein Frauenzimmer oder jemand, der vornehmer ist als wir, von einer Speise, die vor uns steht, vorlege; daß es unartig sei, in Gesellschaften jemanden einen unschuldigen Spaß zu verderben, z. B. wenn er Kartenkünste zeigt und wir wissen, wie das Stück gemacht wird, das kleine Wunder zu enthüllen, und dergleichen Regeln mehr zu geben, dazu ist hier nicht der Ort. Leuten von gewissem Stande und einer nicht ganz gemeinen Erziehung ist das in der ersten Jugend schon eingeprägt worden; nur erinnere ich, daß diese kleinen Dinge in mancher Leute Augen keine kleinen Dinge sind und daß oft unsre zeitliche Wohlfahrt in solcher Leute Händen ist.

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Über den Umgang mit Menschen


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Erstes Buch
Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen
43) Wohlredenheit und äußerlicher Anstand;


1) Jeder Mensch muß sich in der Welt selbst gelten machen. Anwendung dieses Satzes.
2) Strebe nach Vollkommenheit; aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit!
3) Sei nicht zu sehr ein Sklave der Meinung andrer!
4) Enthülle nicht die Schwächen Deiner Nebenmenschen!
5) Eigne Dir nicht das Verdienst andrer zu!
6) Verbirg Deinen Kummer!
7) Rühme nicht zu laut Dein Glück!
8) Verliere nicht die Zuversicht!
9) Suche Gegenwart des Geistes zu haben!
10) Nimm, so wenig als möglich, von andern Wohltaten an!
11) Halte streng Wort und sei wahrhaft!
12) Sei pünktlich, ordentlich, fleißig!
13) Interessiere Dich für andre, wenn Du willst, daß andre sich für Dich interessieren sollen!
14) Sei nicht zu offen herzig!
15) Alle Menschen wollen amüsiert sein. Über das Spaßmachen.
16) Sage jedem etwas Lehrreiches oder Angenehmes! Über Schmeichelei.
17) Über Spott und Medisance.
18) Über Anekdoten.
19) Trage keine Nachrichten aus einem Hause in das andre!
20) Sei vorsichtig in Tadel und Widerspruch!
21) Rede nicht zu viel und nicht langweilig!
22) Noch von Dingen, die nur Dich interessieren!
23) Über Egoismus.
24) Widersprich Dir nicht im Reden!
25) Wiederhole Dich nicht!
26) Vermeide Zweideutigkeiten;
27) Gemeinsprüche;
28) Unnütze Fragen!
29) Lerne Widerspruch ertragen!
30) Wo man sich zur Freude versammelt, da rede nicht von Geschäften!
31) Über Religionsgespräche.
32) Sei vorsichtig in Gesprächen über andrer Gebrechen!
33) Regeln beim Briefwechsel.
34) Suche niemand lächerlich zu machen!
35) Schrecke, zerre, beunruhige und necke niemand!
36) Bringe bei niemand unangenehme Dinge in Erinnerung!
37) Nimm nicht teil an fremdem Spotte!
38) Über Disputiergeist.
39) Laß jeden seine Handlungen selbst verantworten, wenn Du nicht sein Vormund bist!
40) Betragen, wenn uns Langeweile gemacht wird.
41) Über Verschwiegenheit;
42) Leichtigkeit im Umgange;
44) Kleidung.
45) Über kleine gesellschaftliche Unschicklichkeiten.
46) Soll man viel oder wenig in Gesellschaften gehn?
47) Man hüte sich vor zu großen Forderungen!
48) Unterschied im äußern Betragen.
49) Sei, was Du bist, immer und ganz!
50) Gib andern Gelegenheit zu glänzen!
51) Man kann in jeder Gesellschaft etwas lernen.
52) Mit wem soll man umgehn?
53) Über den Umgang in großen Städten, in kleinern, und auf dem Lande.
54) In fremden Gegenden.
55) Verflechte niemand in Deine Privat-Zwistigkeiten!
56) Wenn Du etwas in der Welt erlangen willst, so mußt Du darum bitten.
57) Grenzen der Dienstfertigkeit.
58) Wie man die Menschen beurteilen solle.
59) Vorsichtigkeits-Regeln.
60) Ob diese Regeln für alle Menschen passen?
61) Vor allen Dingen handle immer konsequent!
62) Habe immer ein gutes Gewissen!
63) Inwiefern auch Frauenzimmer von diesen Regeln Gebrauch machen können.

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