1) Was man heutzutage unter einem Gelehrten und Künstler versteht?

Wenn der Titel eines Gelehrten nicht heutzutage so gemein würde als der eines Gentleman in England; wenn man sich unter einem Gelehrten immer nur einen Mann denken dürfte, der seinen Geist durch wahrhaftig nützliche Kenntnisse ausgebildet und diese Kenntnisse zur Veredlung seines Herzens angewendet hätte - kurz, einen Mann, den Wissenschaften und Künste zu einem weisern, bessern und für das Wohl seiner Mitbürger tätigern Menschen gemacht hätten, dann brauchte ich hier kein Kapitel über den Umgang mit solchen Leuten zu schreiben. Was bedarf es einer Vorschrift, wie man mit dem Weisen und Edeln umgehn soll? An seiner Seite zu horchen auf die Lehren, die von seinen Lippen strömen; seine Augen auf ihn gerichtet zu haben, um sein Beispiel die Richtschnur unsrer Handlungen sein zu lassen; die Wahrheit von ihm zu vernehmen und dieser Wahrheit zu folgen - das ist ein Glück, dessen Genuß nicht nach Regeln gelernt zu werden braucht. Wenn aber heutzutage jeder elende Verseschmied, Kompilator, Journalist, Anekdotenjäger, Übersetzer, Plündrer fremder literarischer Güter und überhaupt jeder, der die unbegreifliche Nachsicht unsers Publikums mißbraucht, um ganze Bände voll Unsinn, Torheit und Wiederholung längst besser gesagter Dinge drucken zu lassen, sich selber einen Gelehrten nennt; wenn die Wissenschaften nicht nach dem Grade ihrer Nützlichkeit für die Welt, sondern nach dem veränderlichen, leichtfertigen Geschmacke des lesenden Pöbels geschätzt, spekulative Grillen Weisheit genannt werden, fieberhafte Phantasie für Schwung und Begeisterung gilt; wenn ein Knabe, der sein rauhes Gewäsche in abwechselnd kurzen und langen Zeilen in einen Musen-Almanach einrücken läßt, ein Dichter heißt; wenn der Mensch, der mit seinen Fingern ein Gewühl von falschen Tönen, ohne Verbindung und Ausdruck, den Saiten entlockt, ein Tonkünstler; der, welcher schwarze Punkte, in Abschnitte eingeteilt, auf Papier setzen kann, ein Komponist; der, welcher auf Brettern herumspringt, ein Tänzer genannt wird, dann muß man wohl ein paar Worte darüber sagen, wie man sich im Umgange mit solchen Leuten zu betragen hat, wenn man nicht für einen Mann ohne Geschmack und Kenntnis angesehn sein will.

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Über den Umgang mit Menschen

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Drittes Buch
Über den Umgang mit Gelehrten und Künstlern.
1) Was man heutzutage unter einem Gelehrten und Künstler versteht?


2) Ob man den Gelehrten nach seinen Schriften beurteilen könne, und ob ein Schriftsteller auch im Umgange immer anders reden müsse als gewöhnliche Menschen? Es ist sehr zu verzeihn, wenn ein Mann gern von seinem Fache redet. Über Verlästerung berühmter Männer. Über rezitierende junge Gelehrte.
3) Einige Vorsichtigkeitsregeln im Umgange mit Schriftstellern.
4) Über den Umgang der Gelehrten untereinander.
5) Man soll nicht prahlen mit der Freundschaft der Gelehrten, noch mit den Brocken aus ihren Schriften.
6) Vorsicht im Umgange mit Journalisten und Anekdotensammlern.
7) Über den Umgang mit Dichtern, Musikern, Dilettanten, und wie sich ein Künstler betragen solle, der heutzutage sein Glück machen will?
8) Etwas über das Schauspielerleben. Warnung für den Jüngling, der sein Leben den gefälligen Musen und dem Umgange mit ihren Priestern widmet.
9) Wie man sich zu betragen habe, wenn man die Direktion über Tonkünstler und Schauspieler führt?
10) Man soll den jungen Künstler nicht durch Schmeichelei verderben. Regeln für diesen.
11) Glück im Umgange mit dem echten philosophischen Künstler beschrieben.

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